Verwirklichung des Sozialismus

Aus einer Rede Rosa Luxemburgs auf dem Gründungsparteitag der KPD (30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919)


Wenn wir heute an die Aufgabe herantreten, unser Programm zu besprechen und es anzunehmen, so liegt dem mehr als der formale Umstand zugrunde, daß wir uns gestern als eine selbständige neue Partei konstituiert haben und daß eine neue Partei offiziell ein Programm annehmen müsse; der heutigen Besprechung des Programms liegen große historische Vorgänge zugrunde, nämlich die Tatsache, daß wir vor einem Moment stehen, wo das sozialdemokratische, sozialistische Programm des Proletariats überhaupt auf eine neue Basis gestellt werden muß. Parteigenossen, wir knüpfen dabei an den Faden an, den genau vor 70 Jahren Marx und Engels in dem Kommunistischen Manifest gesponnen hatten. Das Kommunistische Manifest behandelt den Sozialismus, die Durchführung der sozialistischen Endziele, wie Sie wissen, als die unmittelbare Aufgabe der proletarischen Revolution. Es war die Auffassung, die Marx und Engels in der Revolution von 1848 vertraten und als die Basis für die proletarische Aktion auch im internationalen Sinne betrachteten. Damals glaubten die beiden und mit ihnen alle führenden Geister der proletarischen Bewegung, man stände vor der unmittelbaren Aufgabe, den Sozialismus einzuführen; es sei dazu nur notwendig, die politische Revolution durchzusetzen, der politischen Gewalt im Staate sich zu bemächtigen, um den Sozialismus unmittelbar zu Fleisch und Blut zu machen. Nachher wurde, wie Sie wissen, von Marx und Engels selbst eine durchgreifende Revision dieses Standpunktes vorgenommen. In der ersten Vorrede zum Kommunistischen Manifest vom Jahre 1872, die noch von Marx und Engels gemeinsam unterzeichnet ist (abgedruckt in der Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1894), sagen die beiden über ihr eigenes Werk: »Dieser Passus« - das Ende von Abschnitt II, nämlich die Darlegung der praktischen Maßnahmen zur Durchführung des Sozialismus - »würde heute in vieler Beziehung anders lauten. Gegenüber der immensen Fortentwicklung der großen Industrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren und der mit ihr fortschreitenden Parteiorganisation der Arbeiterklasse, gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum erstenmal zwei Monate lang die Politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß "die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann".«


Umwälzung der Produktion

Und wie lautet dieser Passus, der für veraltet erklärt wurde? Das lesen wir in dem Kommunistischen Manifest auf Seite 23 folgendermaßen: »Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.

Es kann dies natürlich zunächst nur geschehn vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind.

Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden sein.

Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden ziemlich allgemein in Anwendung kommen können:

1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben.

2. Starke Progressivsteuer.

3. Abschaffung des Erbrechts.

4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.

5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.

6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats.

7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.

8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.

9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.

10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.«


Rückkehr zu Marx

Wie Sie sehen, sind das mit einigen Abweichungen dieselben Aufgaben, vor denen wir heute unmittelbar stehen: die Durchführung, Verwirklichung des Sozialismus. Zwischen der Zeit, wo jenes als Programm aufgestellt wurde, und dem heutigen Moment liegen 70 Jahre kapitalistischer Entwicklung, und die historische Dialektik hat dahin geführt, daß wir heute zu der Auffassung zurückkehren, die Marx und Engels nachher als irrtümliche aufgegeben hatten. Sie hatten sie mit gutem Grunde damals als eine irrtümliche aufgegeben. Die Entwicklung des Kapitals, die inzwischen vor sich gegangen ist, hat uns dahin gebracht, daß das, was damals Irrtum war, heute Wahrheit geworden ist; und heute ist unmittelbare Aufgabe, das zu erfüllen, wovor Marx und Engels im Jahre 1848 standen. Allein zwischen jenem Punkte der Entwicklung, dem Anfange, und unserer heutigen Auffassung und Aufgabe liegt die ganze Entwicklung nicht bloß des Kapitalismus, sondern auch der sozialistischen Arbeiterbewegung und in erster Linie derjenigen in Deutschland als des führenden Landes des modernen Proletariats. Die Entwicklung hat in einer eigenartigen Form stattgefunden. Nachdem von Marx und Engels nach den Enttäuschungen der Revolution von 1848 der Standpunkt aufgegeben wurde, daß das Proletariat unmittelbar, direkt in der Lage sei, den Sozialismus zu verwirklichen, entstanden in jedem Lande sozialdemokratische, sozialistische Parteien, die einen ganz anderen Standpunkt einnahmen. Als unmittelbare Aufgabe wurde erklärt der tägliche Kleinkampf auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete, um nach und nach erst die Armeen des Proletariats heranzubilden, die berufen sein werden, wenn die kapitalistische Entwicklung heranreift, den Sozialismus zu verwirklichen. Dieser Umschwung, diese völlig andere Basis, auf die das sozialistische Programm gestellt wurde, hat namentlich in Deutschland eine sehr typische Form erhalten. In Deutschland war ja für die Sozialdemokratie bis zu ihrem Zusammenbruch am 4. August (1914) das Erfurter Programm maßgebend, in dem die sogenannten nächsten Minimalaufgaben auf dem ersten Plan standen und der Sozialismus nur als der Leuchtstern in der Ferne, als das Endziel hingestellt wurde. Es kommt aber alles darauf an, nicht, was im Programm geschrieben steht, sondern wie man das Programm lebendig erfaßt (...) Mit den Veränderungen, die die historische Entwicklung inzwischen herbeigeführt hat, haben wir die Pflicht, ganz klar und bewußt eine Revision vorzunehmen gegenüber der Auffassung, die in der deutschen Sozialdemokratie bis zum Zusammenbruch am 4. August (1914) maßgebend war. Diese Revision soll hier offiziell vorgenommen werden. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Text- und Bildmaterial sind nur für die persönliche Information bestimmt. Jede weitergehende Verwendung, insbesondere die Speicherung in Datenbanken, Veröffentlichung, Vervielfältigung und jede Form von gewerblicher Nutzung sowie die Weitergabe an Dritte - auch in Teilen oder in überarbeiteter Form - ohne schriftliche Zustimmung der Tageszeitung junge Welt/Verlag 8. Mai GmbH sind untersagt.

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