Demokratie in jeder Spielart

Trotz aller Rückschläge ist die Nelkenrevolution von 1974 in Portugal tief verankert. Im Kampf für Sozialismus kann daran angeknüpft werden.

Aurélio Santos - Mitglied der Zentralen Kontrollkommission der Portugiesischen Kommunistischen Partei

Wir in Portugal glauben, daß die Welt eine schwierige Zeit durchmacht. Es gibt bedeutende Veränderungen, bestimmte Ziele und Kampfformen entsprechen nicht mehr dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis. Es sind noch keine neuen Ziele und Kampfformen definiert worden, die es erlauben würden, den Weg der Geschichte wieder aufzunehmen.

Subjektive Faktoren


Mit dem Verschwinden der sozialistischen Länder in Osteuropa, dem Verschwinden der Sowjetunion, hat der Kapitalismus wieder an Schwung gewonnen. Die Entwicklung der Produktivkräfte und die Globalisierung der Wirtschaft haben Probleme geschaffen und Situationen hervorgerufen, die neu sind für die revolutionären Bewegungen und für den Kampf um den Sozialismus. Wir glauben aber auch, daß es nicht nur objektive Faktoren sind, die diese Situation hervorgerufen haben und die die Angelegenheit so schwierig machen. Es gibt auch subjektive Faktoren, und einige sind sehr dramatisch. Vor allem gibt es die Schwierigkeit, daß die Linkskräfte, die revolutionären Kräfte bisher nicht in der Lage waren, diese Situation zu analysieren und Antworten zu finden. Sie haben auch das frühere Organisationsniveau nicht wieder erreicht. Wir glauben, eine der Formen, den Kampf wieder aufzunehmen, besteht darin, daß wir gemeinsam agieren und daß wir das soziale Bewußtsein der Menschen wecken. Wir müssen wissen, wie die Leute denken. Wenn wir den Sozialismus als Perspektive und Alternative für den Kapitalismus und Imperialismus darstellen wollen, dann ist das sehr wichtig. Deshalb ist es auch wichtig, daß solche Konferenzen wie diese hier stattfinden.

In Portugal – und ich spreche natürlich von unseren Überlegungen, denen der Portugiesischen Kommunistischen Partei – versuchen wir, die Realität der Gesellschaft zu analysieren, zu sehen, welche Bedingungen in unserem Land nach der Aprilrevolution 1974 entstanden sind, die als Nelkenrevolution in Europa bekannt war.

Die Revolution hatte bestimmte, sehr originäre Merkmale, die ich nennen möchte. Zunächst war sie nicht einfach eine bürgerlich-demokratische Revolution. Es ging zwar auch darum, die bürgerlichen Freiheiten wiederherzustellen, aber in dem langen Kampf gegen den Faschismus setzte sich das portugiesische Volk sehr für Freiheit und für soziale Rechte ein. Es ging um die Anerkennung dieser sozialen Rechte. Sie standen im Prozeß der Aprilrevolution an erster Stelle, sie waren ein Motiv für das Eingreifen breiter Volksschichten in den Kampf. Natürlich hat sich dieser Kampf auch deswegen so entwickelt, so meinen wir jedenfalls, weil es in Portugal eine politische Kraft gab, die in der Lage war, den politischen Willen zum Ausdruck zu bringen und diesen Willen auch zu organisieren. (...)

Die Revolution veränderte die ökonomische Basis, denn es gibt keine sozialen Rechte ohne eine ökonomische Grundlage. Es entfaltete sich eine spontane Bewegung breiter Schichten der Bevölkerung für die Agrarreform und die Nationalisierung der wichtigsten Sektoren der kapitalistischen Produktion. Das war die portugiesische Revolution.

Unvollendete Revolution


Dann kam die Konterrevolution. Wir haben die Aprilrevolution als eine unvollendete Revolution bezeichnet, aber alle Revolutionen wurden nicht vollendet, auch die Französische Revolution hat hundert Jahre gedauert und blieb unvollendet. Revolutionen sind Prozesse. Ihre Entwicklung kann Jahrzehnte dauern, und wir glauben, daß die portugiesische Revolution trotz der Konterrevolution, trotz der Schläge, die sie erlitten hat, in der portugiesischen Realität verankert ist. Wir können den Kampf weiterführen, um zum Sozialismus zu gelangen.

In unserem Projekt sind Sozialismus und Demokratie untrennbar miteinander verbunden. Wir sehen das als einen dialektischen Prozeß, als eine Errungenschaft der Arbeitenden, der Volksschichten, und als einen Kampf, der weitergeführt werden muß. Es geht um die Achtung der politischen Rechte aller Schichten. (...) Als Weg zum Sozialismus schlagen wir vor die Durchsetzung der Demokratie in jeder Spielart. Demokratie ist nicht nur politische Demokratie, die für den Sozialismus natürlich auch vertieft werden muß. Wir glauben, es gibt auch eine soziale Demokratie, die die sozialen Rechte der Arbeitenden und der Bevölkerung garantieren muß. Wir glauben auch, daß es eine wirtschaftliche, eine ökonomische Demokratie geben muß, damit eine soziale Kontrolle über die wichtigsten Bereiche der Produktion der Wirtschaft im Interesse der Bürger und im nationalen Interesse ausgeübt werden kann. (...) Unsere Gedanken entwickeln sich auf der Grundlage von Prinzipien und auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus, den unsere Partei immer als die wichtigste Anschauung der Gesellschaft und der Welt verteidigt hat. Wir werden unseren Kampf um den Sozialismus weiterführen, und wir werden unsere Prinzipien nicht etwa aufgeben, nur weil das jetzt gerade Mode ist. Und wir werden auch nicht von unseren Zielen abrücken, obwohl sie schwierig zu erreichen sind und zwar schwieriger, als wir es und auch unsere Vorkämpfer es einmal gedacht haben. Wir glauben, daß unsere Partei eine unerläßliche Kraft für die Veränderung der politischen Situation in Portugal ist. Wir meinen auch, daß die kommunistischen Parteien notwendig sind, unerläßlich sind in jedem Land der Welt, um eine Wende, eine wirkliche Wende herbeizuführen, um den Kapitalismus zu besiegen und den Weg zum Sozialismus einzuschlagen. Ich denke, wir haben unsere Rolle, und wir müssen sie spielen, wir müssen sie übernehmen, um die Gesellschaft voranzubringen. (...)

Vielleicht haben wir einmal gedacht, daß die Geschichte vorbestimmt ist. Vielleicht haben wir gedacht, der Sozialismus weicht nicht mehr zurück – ich glaube, wir erklärten, der Sozialismus sei unumkehrbar. Aber wir haben die Komplexität der Veränderung der Gesellschaft nicht gesehen. Es gibt immer ein Auf und Ab, es gibt ein Voran und ein Zurück. Gegenwärtig sind wir in der Phase des Rückgangs, aber es wird wieder eine Phase des Vorangehens geben, so wie Marx gesagt hat, daß die Geschichte allein nichts tut, sondern nur die handelnden Menschen. Sie sind es, die die Gesellschaften verändern. Ich denke, daß das Projekt des erneuerten Sozialismus auf Grund der heute zur Verfügung stehenden Erfahrungen möglich ist. Erfahrungen macht man nicht durch Reden, sondern es sind Lebenserfahrungen, d. h. es gibt auch schmerzhafte Momente. Wir glauben, daß das sozialistische Ziel dynamisierend wirken kann, daß es das menschliche Leben voranbringen wird, daß wir neue Fortschritte auf diesem Weg verzeichnen werden. Wie wir in Portugal sagen: Der Kampf geht weiter.

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